EIN TIBETISCHER BLICK

AUF UNSER LEBEN

Sogyal Rinpoche wurde in Tibet geboren und zum Meister des tibetischen Buddhismus ausgebildet und erzogen. 1971 ging er nach England und studierte in Cambridge vergleichende Religionswissenschaften. Seit 1974 lehrt er in West- und Osteuropa, USA, Australien und Asien.

Er beschreibt, wie er das Leben im Westen erlebt:

Der Tod in der modernen Welt

Als ich in den Westen kam, war ich schockiert, wie grundlegend sich die hier vorherrschende Einstellung zum Tod von der Sicht, mit der ich aufgewachsen war, unterschied.

Trotz aller technologischen Errungenschaften besitzt die moderne westliche Zivilisation kein wirkliches Verständnis vom Tod, von den Vorgängen beim Sterben oder von dem, was nach dem Tod geschieht.

Ich begriff, dass die Menschen heutzutage lernen, den Tod zu verdrängen, und daher im Sterben nichts als Vernichtung und Verlust sehen.

Die spirituelle Wüste

Alle großen spirituellen Traditionen der Welt, das Christentum selbst-verständlich eingeschlossen, haben uns erklärt, dass der Tod nicht das Ende ist. Alle haben die Vision eines wie auch immer gearteten Lebens danach, das unserem jetzigen Leben erst seine wahre Bedeutung verleiht.

Aber trotz dieser Lehren ist die moderne Zivilisation in weiten Teilen eine spirituelle Wüste - die Mehrheit glaubt, dieses Leben sei alles. Ohne einen wirklichen, authentischen Glauben an ein Leben danach führen die meisten Menschen ein Leben ohne jeden letzten Sinn.

Das kurzfristige Eigeninteresse

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die katastrophalen Folgen einer Verdrängung des Todes weit über das Individuum hinausreichen: Sie betreffen den ganzen Planeten. In seinem eigensinnigen Glauben, dies Leben sei das einzige, hat der moderne Mensch keine Langzeitvisionen entwickelt. Nichts hält ihn mehr davon ab, den Planeten aus kurzfristigem Eigeninteresse auszuplündern und auf eine Weise selbstsüchtig zu leben, die sich für die Zukunft als fatal erweisen könnte.

Wie viele Warnungen, wie die folgende des früheren brasilianischen Umweltministers, in dessen Verantwortungsbereich auch der Regenwald im Amazonas-Gebiet lag, brauchen wir eigentlich noch?

"Die moderne Industriegesellschaft ist eine fanatische Religion. Wir demolieren, vergiften und zerstören alle Lebenssysteme auf diesem Planeten. Wir handeln, als seien wir die letzte Generation auf diesem Planeten. Ohne einen radikalen Wandel in unseren Herzen, in unserem Geist und in unserer Vision wird die Erde enden wie die Venus: tot und verkohlt."

Die Folgen

Angst vor dem Tod und Ignoranz gegenüber einem Leben danach sind der Treibstoff für die Umweltzerstörung, die unser aller Leben bedroht. Muss es daher nicht zutiefst beunruhigen, dass die Menschen nicht lernen, was der Tod wirklich ist und wie man friedlich stirbt? Dass niemand ihnen Hoffnung gibt auf das, was hinter dem Tod steht und daher letztlich auch hinter dem Leben?

Was könnte paradoxer sein als die Tatsache, dass junge Menschen in jedem nur erdenklichen Fach hoch gebildet sind, außer in diesem einen, das den Schlüssel für den Sinn des Lebens enthält und möglicherweise sogar für unser aller Überleben?

Die Reise durch Leben und Tod

Wir müssen nicht erst warten, bis der schmerzliche Tod eines geliebten Menschen oder der Schock einer unheilbaren Krankheit uns zwingt, unser Leben näher anzuschauen. Wir können hier und jetzt anfangen, in unserem Leben Sinn zu finden.

Wenn wir uns weigern, den Tod zu akzeptieren, werden wir nicht in der Lage sein, unser Leben voll und ganz zu leben, weil wir in dem Aspekt von uns gefangen bleiben, der sterben muss. Diese Ignoranz wird uns endlos an den Bereich der Illusion fesseln, den unkontrollierten Kreislauf, den Ozean des Leidens, den die Buddhisten "Samsara" nennen.

Wenn wir jedoch vorbereitet sind, liegt überwältigende Hoffnung sowohl im Leben als auch im Tod. Für jemanden, der sich vorbereitet hat, kommt der Tod nicht als Niederlage, sondern als Triumph - als glorreichster Augenblick und Krönung des Lebens.

Die Vergänglichkeit

Warum eigentlich haben wir eine derartige Angst vor dem Tod, dass wir uns weigern, uns überhaupt mit ihm zu befassen? Vielleicht ist die Ursache unserer Angst die Tatsache, dass wir nicht wissen, wer wir wirklich sind.

Wir glauben an eine persönliche, einzigartige und unabhängige Identität. Wagen wir es aber, diese Identität zu untersuchen, dann finden wir heraus, dass sie völlig abhängig ist von einer endlosen Reihe von Dingen: von unserem Namen, unserer "Biographie", von Partner, Familie, Heim, Beruf, Freunden, Kreditkarten ... Wenn uns all das genommen würde, wüssten wir dann noch, wer wir wirklich sind?

Leben nach Plan

Wir Menschen leben oft sehr oberflächlich, wie nach einem vorbestimmten Plan. Unsere Jugend verbringen wir mit Ausbildung; dann finden wir einen Job, begegnen jemandem, heiraten und haben Kinder. Wir bauen oder kaufen uns ein Haus, versuchen Karriere zu machen, träumen von einem Haus auf dem Land oder von einem Zweitwagen.

Wir fahren mit unseren Freunden in Urlaub. Das größte Dilemma, mit dem wir uns konfrontiert sehen, besteht aus Fragen wie "Wohin fahren wir im nächsten Urlaub?" oder "Wen laden wir zu Weihnachten ein?". Unser Leben ist monoton und belanglos, verschwendet in Trivialitäten, weil wir nichts Besseres zu kennen scheinen.

Unser Leben ist so hektisch, dass ein Nachdenken über den Tod das letzte ist, wofür wir Zeit haben. Wir ersticken unsere geheime Angst vor Vergänglichkeit, indem wir uns mit immer mehr Gütern umgeben, mit immer mehr Dingen, mit immer mehr Bequemlichkeit, bis wir schließlich zu Sklaven all dieser Umstände werden. Unsere gesamte Zeit und Energie erschöpfen sich in ihrem Unterhalt.

Schon bald besteht unser einziges Lebensziel darin, alles so sicher und überschaubar wie nur möglich zu halten. Wenn Veränderungen eintreten, finden wir als Gegenmittel ganz schnell schlaue, kurzfristige Lösungen. Und so geht unser Leben dahin, bis uns eine schwere Krankheit oder ein Schicksalsschlag aus unserer Betäubung reißt.

Das moderne Samsara

Manchmal denke ich, die größte Errungenschaft der modernen Kultur ist ihre brillante Verkaufsstrategie von Samsara und seinen sinnlosen Zerstreuungen. Die moderne Gesellschaft scheint mir eine einzige Verherrlichung all der Dinge, die von der Wahrheit wegführen, die es schwermachen, für die Wahrheit zu leben, und die die Menschen entmutigen, auch nur an die Existenz einer Wahrheit zu glauben.

Das moderne Samsara bezieht seine Kraft aus Angst und Depression, die es pflegt und in denen es uns alle erzieht. Diese Stimmung wird sorgsam genährt und gehegt von einer Konsum-Maschinerie, die unsere Gier ständig aufrechterhalten muss, um weiterlaufen zu können.

Samsara ist bestens organisiert, vielseitig und raffiniert; es springt uns aus jedem Winkel mit seiner Propaganda an und schafft eine nahezu unentrinnbare Atmosphäre der Abhängigkeit. Je mehr wir zu entkommen versuchen, desto tiefer scheinen wir uns in seine Netze zu verstricken, die es so genial auszulegen versteht.

Besessen von falschen Hoffnungen, Träumen und Wünschen, die Glück versprechen, aber zu Leiden führen, gleichen wir Menschen, die sich verdurstend durch eine endlose Wüste schleppen. Und alles, was Samsara uns zu trinken anbietet, ist ein Glas Salzwasser, um uns noch durstiger zu machen.

Das Leben ernst nehmen

Das Leben ernst nehmen bedeutet nicht, dass wir unser ganzes Leben meditierend verbringen müssen, als würden wir im Himalaja oder im alten Tibet leben. In der modernen Welt müssen wir arbeiten und unseren Unterhalt verdienen, aber wir sollten uns nicht in eine Neun-bis-fünf-Uhr-Alltagsroutine verstricken, in der wir ohne jede Perspektive eines tieferen Sinns des Lebens dahin treiben.

Unsere Aufgabe sollte es sein, eine Balance, einen mittleren Weg zu finden. Wir müssen lernen, uns nicht mit unwesentlichen Aktivitäten und Beschäftigungen zu überfordern, sondern unser Leben mehr und mehr zu vereinfachen. Der Schlüssel zu einer glücklichen Ausgewogenheit im modernen Leben ist Einfachheit.

Das Ergebnis ist geistiger Friede. Sie haben mehr Zeit, sich geistigen Dingen zu widmen und das Wissen zu erwerben, das nur in spiritueller Wahrheit zu finden ist, und das Ihnen hilft, sich dem Tod zu stellen.

Was wir in unserem Leben getan haben, formt uns zu dem, der wir sind, wenn wir sterben. Und alles, wirklich alles, zählt.


(Auszüge aus: Sogyal Rinpoche, Das tibetische Buch vom Leben
und vom Sterben; Otto Wilhelm Barth Verlag, 1992)


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