ÜBER DAS GEBEN


(aus: Khalil Gibran, Der Prophet)

Almustafa, der Prophet, lebte in einer kleinen Stadt am Meer. Am Tag seiner Abreise wird er von den Menschen der Stadt nochmals zu den Themen befragt, die ihr Leben bestimmen:

Sodann sagte ein reicher Mann: Sprich zu uns über das Geben.

Und er antwortete: Ihr gebt nur wenig, wenn ihr von eurem Besitz gebt.
Erst wenn ihr von euch selbst gebt, gebt ihr wirklich. Denn was ist euer Besitz anderes als all das, was ihr hortet und bewacht aus Sorge, ihr könntet es morgen brauchen?

Und morgen, was wird das Morgen dem allzu besorgten Hund bescheren, der im Sand, in dem es keine Spuren gibt, seine Knochen verscharrt, ehe er den Pilgern in die heilige Stadt nachfolgt?

Und was ist die Angst vor der Not anderes als die Not selbst? Ist nicht die Angst vor Durst, wenn euer Brunnen voll ist, der Durst, der nicht zu löschen ist?

Es gibt Menschen, die von dem vielen, das sie ihr Eigen nennen, wenig geben – und sie geben es der Anerkennung wegen, und ihre Hinter-gedanken lassen ihre Gaben ungenießbar werden. Und es gibt solche, die wenig haben, aber alles geben. Diese sind diejenigen, die an das Leben und an seine Fülle glauben, und ihr Beutel ist niemals leer.

Es gibt solche, die mit Freude geben, und diese Freude ist ihr Lohn.
Und es gibt solche, die mit Schmerzen geben, und dieser Schmerz ist ihre Taufe. Und es gibt solche, die beim Geben weder Schmerz empfinden noch Freude oder Anerkennung darin suchen.

Sie geben so, wie in dem Tal dort drüben die Myrte ihren Duft weithin verströmt. Durch solcher Menschen Hand spricht Gott, und durch ihre Augen lächelt er auf die Erde herab.

Es ist gut, auf Bitten hin zu geben, doch besser ist es, man gibt ungebeten, vom Verstehen geleitet. Denn für den, der gerne gibt, bedeutet die Suche nach einem, der empfangen soll, eine größere Freude als das Geben selbst.

Und warum solltet ihr etwas zurückbehalten wollen? Alles, was ihr besitzt, wird irgendwann gegeben werden. Deshalb gebt jetzt, damit die Zeit des Gebens die eure ist und nicht die eurer Erben.

Oft sagt ihr: "Ich möchte gern geben, aber nur dem, der es verdient."
Die Bäume in euren Gärten kennen solche Worte nicht und auch nicht die Herden auf euren Weiden. Sie geben, damit sie leben können, denn etwas zurückzuhalten bedeutet zu Grunde zu gehen.

Gewiss ist derjenige, der würdig ist, seine Tage und Nächte zu empfangen, auch würdig, eure Gaben zu erhalten. Und der, welcher verdient hat, aus dem Meer des Lebens zu trinken, verdient auch, seinen Becher an eurem Bach zu füllen.

Welch größeres Verdienst gibt es als das, das im Mut liegt und im Vertrauen, ja auch in der Großzügigkeit des Empfangens? Wer seid ihr denn, dass die Menschen sich die Brust aufreißen und ihren Stolz zeigen sollen, damit ihr sie ihrer Würde entblößt und ihres Ehrgefühls beraubt sehen könnt.

Achtet vor allem darauf, dass ihr selbst es verdient, Gebende zu sein und ein Werkzeug des Gebens. Denn in Wahrheit ist es das Leben, das dem Leben gibt – während ihr, die ihr euch für Gebende haltet, nichts anderes als Zeugen seid.

Und ihr, die ihr empfangt – und ihr seid alle Empfangende –, belastet euch nicht mit der Bürde der Dankbarkeit, damit ihr euch selbst und dem Gebenden kein Joch auferlegt. Schwingt euch lieber gemeinsam mit dem Gebenden auf seinen Gaben empor wie auf Flügeln.

Denn zu viel Dankesschuld zu empfinden hieße, an der Großzügigkeit dessen zu zweifeln, der die freigiebige Erde zur Mutter und Gott zum Vater hat.

(aus: Khalil Gibran, Der Prophet. Goldmann Verlag)


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